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31.07.2001Neue Zürcher Zeitungtom.Pferde mit Bauchweh, entlaufene Schafe und eine tote Ratte

Pferde mit Bauchweh, entlaufene Schafe und eine tote Ratte

Nachtdienst mit dem Tierpfleger Daniel Martin im Zürcher Tierspital

Der 31-jährige Daniel Martin arbeitet als Pferdepfleger im Zürcher Tierspital. Nachtschicht hat er nur drei- bis viermal im Jahr, dann jedoch immer eine ganze Woche am Stück. Während einer solchen Schicht führt er Kontrollgänge durch, nimmt sämtliche Notfalltelefonate entgegen, bietet die Tierärzte auf, hilft bei Notoperationen und mistet frühmorgens im Stall bei den Kühen.

tom. Tierpfleger Daniel Martin ist gespannt, was ihn erwartet, wenn er abends um 22 Uhr seine vierte Nachtschicht in Folge im Tierspital in Angriff nimmt. Über eine langweilige Nachtdienstwoche kann er sich bisher nicht beklagen. Bereits in der ersten Nacht war ein Pferd mit einer schlimmen Kolik ins Tierspital gebracht worden, und das um 3 Uhr in der Früh. Es hatte sofort operiert werden müssen. In der zweiten Nacht fand sich der 31-jährige Tierpfleger um 1 Uhr morgens beim Schafe-Einfangen wieder. Die Tiere waren aus einem Gehege entwichen. Auch die dritte Nacht war von einer Notfalloperation geprägt. Ein dreijähriges Vollblutpferd hatte schwere Beinverletzungen erlitten, als der Boden seines Pferdetransporters herausgebrochen war.

Im Tierspital eingetroffen, nimmt Martin als Erstes die Instruktionen des Pflegers, dessen Dienst um 22 Uhr endet, und der Notfall-Tierärzte der Gross- und Kleintierklinik entgegen. Die Kleintierpflegerin orientiert ihn über hängige Fälle. Eine Katze und eine kranke Ente sollen noch vorbeigebracht werden. Zudem habe eine Frau angerufen, die sich Sorgen um ihren Kanarienvogel mache. Dieser könne nicht mehr seinen Darm entleeren, habe die Frau erzählt. Er drücke zwar die ganze Zeit wie verrückt, es komme aber nichts heraus. Die Pflegerin übergibt Martin den Notfallpiepser. Bevor sie nach Hause kann, muss sie noch mit jedem der 25 Hunde, die sich derzeit in Pflege befinden, einzeln Gassi gehen.

Auf dem Tisch liegt eine tote Ratte. Ihr Besitzer weilt in den Ferien. Während ein Kollege auf den Nager aufpassen musste, gab das Tier den Schnauf auf. Nun hat der Kollege die Ratte ins Tierspital gebracht, um die Todesursache feststellen zu lassen, damit er gegenüber dem Besitzer nicht in Beweisnotstand gerät. Martin muss die Ratte in einem Plasticsack mit einem beigehefteten «Sektionsantrag» in den Kühlraum bringen, damit sie am nächsten Tag seziert werden kann. Auf dem Sektionsantrag hätte der Betreuer eine Kremation wünschen und eine Urne für 30 bis 80 Franken bestellen können. Darauf hat er aber verzichtet.

Während der Nacht absolviert Martin etwa alle zwei Stunden einen Rundgang. Weil sich die Stallungen und Behandlungsräume des Tierspitals über ein relativ weitläufiges Gebiet erstrecken, nimmt er dafür ein Trottinett. In den Ställen stehen etliche Kühe und Pferde mit geschienten oder eingebundenen Beinen, andere haben Infusionsschläuche am Hals. Pferden, die am nächsten Morgen operiert werden, muss Martin Maulkörbe anlegen, damit sie nichts mehr fressen können und bei der Operation nüchtern sind. In einer Box steht eine Eselin. Sie hat ihr frisch geworfenes Fohlen nicht angenommen. Eine Veterinärstudentin muss ihm den Schoppen geben. Aus einem anderen Gehege blickt neugierig ein Alpaka. Da geht der Piepser los. Während der Nachtschicht ist Martin der Telefonoperateur des Tierspitals und muss sämtliche Anrufe entgegennehmen. Eine Frau mit einer kranken Katze steht beim Empfang. Martin kann sie an einen Tierarzt übergeben, der noch im Haus ist.

Erst seit dem 1. März ist Daniel Martin Pferdepfleger im Tierspital. Vorher habe er als «Stromer» auf dem Bau gearbeitet, erzählt er. Er besitzt ein eigenes Pferd. Sein Wunsch sei es schon länger gewesen, vom Bau wegzukommen und «etwas mit Tieren zu machen». Dafür nehme er auch die Nachtschichten gerne in Kauf. Die Ausbildung zum Pferdepfleger erhält Martin während der Arbeit. Die Abwechslung sei enorm, sagt er. Er lerne auch viel über Tiermedizin. Bei den Operationen hilft er mit. Dabei müsse er «den Grind» ganz schön bei der Sache haben. Die Nachtdienste seien völlig unterschiedlich. «Manchmal bist du ständig am Rennen, und manchmal geht die Nacht einfach nicht zu Ende», sagt er. Seine Nachtschicht dauert jeweils eine Woche lang von 22 bis 7 Uhr, zwar nur viermal im Jahr, das sei aber schon hart genug. Gegen 8 Uhr komme er jeweils nach Hause und versuche bis etwa 14 Uhr zu schlafen, was ihm aber Mühe bereite. Dafür habe er dann aber am Nachmittag Zeit, sich um sein eigenes Pferd zu kümmern.

Auf dem Gelände des Tierspitals gibt es ein «Wärterhäuschen». Im Erdgeschoss befindet sich ein Aufenthaltsraum mit Getränke- und Snackautomaten sowie einem Fernseher, im oberen Stockwerk schlafen Tierärzte und Studenten, die auf Pikett sind. Zwischen den Rundgängen zappt Martin manchmal durchs Fernsehprogramm oder liest ein Buch, bis das Telefon wieder klingelt - wie jetzt. Am anderen Ende der Leitung erzählt eine Frau, dass zwei Hunde, die sich paarten, nicht mehr voneinander loskämen. Sie hockten schon längere Zeit aufeinander, und die Hündin jaule erbärmlich. Martin verbindet die Frau weiter mit einem Tierarzt. «Wenn die Leute ein Problem haben, das ich nicht kenne, entscheide nicht ich darüber», erklärt er, «falls der zuständige Tierarzt bereits schläft, wecke ich ihn eben.»

Notoperationen bei Pferden betreffen in der Nacht meistens Verdauungsprobleme, also Koliken, seltener Unfälle. Trifft ein Pferd mit Bauchschmerzen ein, muss Martin beim Ausladen helfen. In der Behandlungshalle misst er das Fieber, wäscht das Tier und schert es am Hals, damit ein Katheter gesetzt werden kann. Er bereitet Katheter und Spritze vor und reinigt die Stichstelle. Seine Aufgabe ist es auch, die Blutwerte zu bestimmen. Kommt es zu einer Operation, muss Martin den Bauch des Pferds scheren und den Operationssaal mit allen Maschinen vorbereiten sowie sterile Bestecke, Operationsmäntel und Handschuhe bereitstellen. Dem Pferd legt er vor der Operation in einem gepolsterten Raum einen Kopfschutz und Gamaschen an den Beinen an.

Nachdem es vom Tierarzt eine Narkosespritze erhalten hat, befindet sich das Pferd allein im Raum mit dem Tierpfleger. Er muss schauen, dass sich das Tier beim Umfallen nicht verletzt und richtig zu liegen kommt. Mit einem Kran wird das Pferd dann in den Operationssaal auf den Operationstisch gehievt. Handelt es sich um eine Kolik, wird der Bauch aufgeschnitten. Die Därme werden aus der Bauchhöhle genommen und auf einem «Darmwagen» ausgebreitet. Handelt es sich um eine Verstopfung, wird der Darm aufgeschnitten und der verhärtete Inhalt entleert, was mehrere Kisten füllt. Der leere Darm wird wieder zugenäht. Nach der Operation hilft Martin dem Pferd beim Aufstehen, bringt es in die Box und legt ihm einen Maulkorb an. Er muss den Operationssaal aufräumen und die Bestecke waschen. Die Schicksale der Tiere gehen ihm ans Herz. «Es gibt Momente, da hegst du als Pfleger tagelang Hoffnung, dass ein Pferd durchkommt. Wenn es am Schluss dann trotzdem eingeschläfert werden muss, beschäftigt mich das innerlich sehr.»

Jeweils um 5 Uhr in der Früh muss Martin bei den Kühen misten, damit sie nachher gemolken werden können. Die Milch der in Behandlung stehenden Tiere wird ausgeleert. An diesem Morgen muss der Tierpfleger zusätzlich zwei Kühen, die auf eine Operation warten, Maulkörbe anlegen. Um 6 Uhr bekommt ein Pferd dann noch «Tabletten eingeworfen», wie sich ein Tierarzt ausdrückt. Dazu wird dem Tier eine Sonde über die Nase in den Magen eingeführt. Durch diese Sonde gelangen die Medikamente in den Magen. Um 6 Uhr 45 ist Martin zurück im «Wärterhäuschen» und trinkt Kaffee mit den Pflegern und Studenten, die ihre Schicht beginnen. Er informiert sie darüber, was in dieser für einmal äusserst ruhigen Nacht passiert ist, und gibt um 7 Uhr den Piepser ab. Die Kollegen gehen zur Arbeit. Er geht nach Hause.

Bereich: NachtarbeitSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin