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03.10.2001Neue Zürcher Zeitungcrz.Schlafen in «beschleunigter Gesellschaft»

Schlafen in «beschleunigter Gesellschaft»

Vom gewöhnlichen Mittagsschläfchen zum «Power Napping» am Arbeitsplatz

In den Vereinigten Staaten erfährt das Mittagsschläfchen eine Renaissance, und zwar unter dem modernistischen Namen «Power Napping». Der «Power Nap» findet im Unterschied zum normalen Mittagsschläfchen offiziell am Arbeitsplatz statt und soll die Leistungskurven der Mitarbeiter in die Höhe schnellen lassen, dies zumindest sagen Studien. Wie verträgt sich das Nickerchen mit schweizerischer Arbeitsmoral?

crz. Winston Churchill tat es, Konrad Adenauer auch, ebenso Napoleon, Albert Einstein und Salvador Dalí, um nur einige wenige zu nennen - sie alle legten sich gerne und aus Überzeugung über Mittag aufs Ohr, und zwar beileibe nicht nur in ihren Jugendjahren. Untätigkeit wird ihnen deswegen wohl niemand vorwerfen. Churchill verteidigte sein mittägliches Schlafritual anlässlich eines Frühstücksgesprächs mit dem Autor Walter Graebner einmal folgendermassen: «Zwischen Mittagessen und Abendessen muss man schlafen (. . .), denken Sie bloss nicht, dass Sie weniger Arbeit schaffen, wenn Sie am Tag schlafen. Das ist eine dumme Idee von Leuten ohne Vorstellungsvermögen. Sie werden sogar mehr bewerkstelligen. Sie bekommen zwei Tage in einem - nun, mindestens eineinhalb, da bin ich mir sicher.»*

Die Maschine als Feind der Siesta

Allein, das Mittagsschläfchen verträgt sich mit dem modernen Arbeitstempo und allgemein mit der «beschleunigten Gesellschaft» auf den ersten Blick mehr schlecht als recht. Schon mit der Industrialisierung erlebte die etablierte Siesta einen ersten Rückschlag. Anderseits aber erklären Fachleute die zurzeit zu beobachtende Renaissance des Mittagsschläfchen eben gerade mit der wachsenden Technologisierung der Arbeitswelt, mit dem gesteigerten Tempo und mit der Zunahme der Reizzufuhr.

In der Tat schläft der Mensch von heute wesentlich weniger als noch in früheren Zeiten. In den USA, so ein Bericht der Cornell-Universität im amerikanischen Bundesstaat New York, schlief der Durchschnittsamerikaner im 19. Jahrhundert rund zehn Stunden, heute sind es gemäss ebendiesem Bericht nur noch sieben Stunden, und ein Drittel der Amerikaner schläft sogar weniger als sechs Stunden. Aus Deutschland liegen ähnliche Erhebungen vor. Der Psychologe James B. Mass, der an der genannten Universität einen Mittagsschlaf-Versuch mit einer repräsentativen Personengruppe durchgeführt hat, kommt zum Schluss, dass ein 20-minütiges Nickerchen - ein sogenannter «Power Nap» - sehr zu empfehlen sei. Der Mittagsschlummer wirke erfrischend, steigere Konzentration und Motivation und senke die Fehlerquote. Gleich gebettet hat sich der Schlafforscher William Anthony von der Universität Boston, der sich sogar dafür einsetzt, in den USA den nationalen Tag des Mittagsschlafs am Arbeitsplatz («National Workplace Napping Day») zu zelebrieren. Einige Unternehmen in den USA haben diese Idee aufgenommen und bieten ihren Angestellten Räumlichkeit und Gelegenheit zum offiziellen Minischlaf am Arbeitsplatz.

Kein Sport über Mittag

Prof. Jürgen Zulley, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums an der Universität Regensburg, Deutschland, und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema «innere Uhr», teilt die Einschätzung seiner amerikanischen Kollegen über die leistungssteigernde Wirkung des Mittagsschlafs. Dieses Phänomen sei belegt, wer mittags kurz schlummere, gehe am Nachmittag erfrischt und konzentrierter ans Werk, sagt Zulley. Der Körper erfährt im Laufe von 24 Stunden zwei Leistungstiefs, das erste freilich während der Nacht, das zweite um die Mittagszeit, wobei letzteres schwächer ausgeprägt ist als das nächtliche. Zwar muss über Mittag nicht zwingend geschlafen werden, eine Ruhepause entspreche allerdings der biologischen Grundausstattung des Menschen, sagt der Schlafforscher. Wer ausgerechnet zu dieser Zeit ins Fitnesscenter geht - ein besonders beim urbanen «Büromenschen» recht häufig vorkommendes Phänomen -, handelt nach schlafmedizinischen Erkenntnissen im Widerspruch zur inneren Uhr. Vom Sport über Mittag rät Zulley daher ab. Wer unter Schlafstörungen leidet, sollte allerdings auf einen «Power Nap» verzichten. Für eine Modeerscheinung mag Zulley die Renaissance des Mittagsschläfchens nicht halten, nicht zuletzt, weil die Siesta auch in Europa (und in Asien) eine Tradition vorlegen kann.

Trotz all diesen Überlegungen leidet das Mittagsschläfchen aber unter einem Imageproblem, sagt Zulley. Das offizielle Nickerchen werde oft als Zeichen der Schwäche gesehen. Viele Unternehmen seien eher bereit, «Mittagsfehler» ihrer Angestellten in Kauf zu nehmen, als ihnen ein Schläfchen offiziell zu erlauben oder gar mit entsprechenden Infrastrukturen zu ermöglichen. Dies heisst aber noch lange nicht, dass in vielen Betrieben nicht doch über Mittag geschlafen wird, die meisten, sagt der Schlafforscher, tun es aber heimlich.

Mittagsschläfchen in der Schweiz

Wie verträgt sich nun das Mittagsschläfchen mit der schweizerischen Arbeitsmoral? Das Pharmaunternehmen Roche etwa weist in einem Ratgeberartikel über den Schlaf auf die Möglichkeit eines Nickerchens bei Tage hin. Wie verhält es sich mit den eigenen Angestellten? Offiziell hat sich der «Power Nap» hier nicht etabliert, wie Sprecher Horst Kramer sagt, der Mittagsschlaf ist aber auch keine «unbekannte Grösse». Bei Roche gibt es einen Aufenthaltsraum, eine Cafeteria und eine Bibliothek, die sich für die Pause anbieten. «Power Napper», meint Kramer, brauchen auch nicht unbedingt einen speziellen Raum, um ihr Mittagsschläfchen zu absolvieren, sehr wohl könne auch am Arbeitsplatz selbst, also am Bürotisch, ein kurzes Nickerchen eingelegt werden.

Etwas anders sieht dies die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers. Der «Power Nap» ist hier in der Tat ein Thema, und zwar in Zusammenhang mit dem baldigen Bezug eines neuen Gebäudes in Zürich Oerlikon mit dem Namen «Cityport», wie Sprecherin Claudia Steiger sagt. Hier sollen den Unternehmensberatern Räume fürs «Energieschlafen» zur Verfügung stehen. Bei IBM ist der «Power Nap» so gut wie institutionalisiert, zumindest was die Infrastruktur angeht. Schon seit sechs Jahren, sagt Sprecherin Susanne Orozco, steht der Belegschaft ein Ruheraum mit drei Liegematten und einer Sitzgruppe für eine Auszeit oder ein Mittagsschläfchen zur Verfügung. Der Ruheraum kam auf Grund einer Mitarbeiterinitiative zustande und hat heute eine Art Stammkundschaft.

Bei Sulzer in Winterthur hingegen ist der «Power Nap» wiederum kein Thema, sagt Sprecher Markus Niederhäuser, der auf die dezentralen Strukturen des Unternehmens auch in dieser Hinsicht hinweist. Es sei auch kein besonderes Bedürfnis der Belegschaft für Ruheräume spürbar. Ganz anders wiederum liegen die Dinge beim Universitätsspital Zürich. Wie Susanna Wittek, Präsidentin des Personalausschusses, sagt, werden die beiden zur Verfügung stehenden Ruheräume mit Liegemöglichkeit rege benutzt, vor allem zwischen 12 Uhr 30 und 13 Uhr 30. In Zeiten der Raumknappheit allerdings, räumt Wittek ein, müsse man die Ruheräume zuweilen bei der Direktion durchaus verteidigen, zumal die Auslastung über den ganzen Tag gesehen eher bescheiden sei.

Das Mittagsschläfchen für sich entdeckt hat auch die Firma «Ruhe und Aktivität», die im Frühling in Zürich einen öffentlichen Ruheraum namens «Restpoint» eröffnet hat. Für acht Franken gibt es dort ein Bett für ein 20-minütiges Mittagsschläfchen. Wahrgenommen wird das Angebot laut Geschäftsführer Moritz Lindenmeyer zwar von weniger Personen als ursprünglich erhofft, allerdings hat der Restpoint schon eine mittägliche Stammkundschaft, sei es der Bankmanager, der unter Jetlag leidende Tourist oder die Ruhe suchende Studentin - allesamt auf der Suche nach etwas Ruhe in einer hektischen Welt.

* Walter Graebner: My Dear Mister Churchill. 1965.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Mensch und Arbeit, 3. Oktober 2001, Nr.229, Seite 77

Bereich: AlltagSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin