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14.11.2001Neue Zürcher ZeitungHermann FeldmeierJetlag - mehr als nur Müdigkeit

Jetlag - mehr als nur Müdigkeit

Massnahmen bei einer verstellten inneren Uhr

Der Jetlag ist nicht nur unangenehm, sondern beeinträchtigt diverse mentale Leistungen ganz beträchtlich. Mit verschiedenen Substanzen versucht man daher, entweder die innere Uhr rascher «umzuprogrammieren» oder aber den Körper dabei zu unterstützen, mit den aussergewöhnlichen Strapazen besser fertig zu werden.

Wer schon einmal eine Flugreise von 8 oder 10 Stunden Dauer hinter sich gebracht und dabei mehrere Zeitzonen übersprungen hat, kennt das Gefühl: Der Organismus «tickt» weiterhin nach dem heimischen Rhythmus, die Uhr am Arm zeigt aber eine völlig andere Zeit, an die sich der Körper offensichtlich noch nicht gewöhnt hat. Die Folge: Bei Reisen von Ost nach West verspürt man am helllichten Tag einen starken Schlafdrang, oder man liegt - bei Flügen in die umgekehrte Richtung - zur nachtschlafenden Zeit wach.

Im Regelfall benötigt der Körper für die Anpassung an eine Zeitzone - sie entspricht einer Stunde Zeitdifferenz - einen halben bis einen ganzen Tag. Wer also von Europa in den Westen der USA reist und dabei neun Zeitzonen überfliegt, muss mit rund einer Woche rechnen, bis sich der Körper an die neue Zeit angepasst hat.

Wiederholter Jetlag besonders ungünstig

Was für den normalen Reisenden ein kleineres Übel, das man bei einem Badeurlaub in exotischen Gefilden gerne in Kauf nimmt, ist für Geschäftsleute, Hochleistungssportler, Piloten und Militärs ein gravierendes Handicap. Der Jetlag beeinträchtigt nämlich nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit, er führt auch zu einem «Knick» bei diversen mentalen Prozessen. Wahrnehmung und Denken werden träge, die Aufmerksamkeit ist reduziert, das Erinnerungsvermögen lässt nach, und die Reaktionsfähigkeit, beispielsweise bei optischen Reizen, verlangsamt sich. Hinzu kommen die typischen Schlafstörungen, welche die Leistungsfähigkeit weiter reduzieren.

Gerät ein Mensch immer wieder in den Jetlag wie typischerweise Flight-Attendants und Piloten, so sind die Folgen noch gravierender. Das räumliche Orientierungsvermögen und die Gedächtnisleistung nehmen ab, ja, es schrumpft sogar der Schläfenlappen des Gehirns (vgl. Anschlussartikel unten). Grund genug für gewisse Wissenschafter, nach Methoden zu suchen, um den Jetlag zu vermindern oder erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Um therapeutisches Terrain zu erkunden, müssen aber erst einmal die Ursachen dieses offensichtlich vielschichtigen Problems bekannt sein. Und da haben die Neurophysiologen in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. So ist mittlerweile klar, dass in einem Nucleus suprachiasmaticus genannten Hirnareal so etwas wie der zentrale Schrittmacher aller chronobiologischen Körperfunktionen sitzt. In den «richtigen Takt» gebracht wird diese Art von Generaluhr durch das in der Zirbeldrüse hergestellte Neurohormon Melatonin, dessen Produktion wiederum von der Lichtintensität und -qualität abhängt, die auf den Körper trifft. Während in der Nacht die Freisetzung von Melatonin auf ein Maximum ansteigt, fällt sie im Morgengrauen wieder ab.

Wie sehr das Melatonin das Uhrwerk im Nucleus suprachiasmaticus beeinflusst, zeigt sich auf Grund der Beobachtung, dass die experimentelle Zuführung des Botenstoffs die sinuskurvenförmige Aktivität in diesem Hirnareal in die eine oder andere Richtung verschiebt: Nimmt eine Person am Morgen einige Milligramm Melatonin ein, wird die Uhr sozusagen zurückgestellt. Gelangt dagegen am Nachmittag oder Abend ein Überschuss des Botenstoffs an die Rezeptoren im neuronalen Uhrwerk, rutscht die Sinuskurve nach «vorne» - die Uhr wird vorgestellt. Die gleiche Wirkung übt auch das Sonnenlicht aus, ebenfalls übers Melatonin vermittelt.

Melatonin synchronisiert die innere Uhr

Immer dann, wenn äussere Schlüsselreize wie das Licht phasenverschoben zum Rhythmus der inneren Uhr eintreffen, verlieren wichtige Steuermechanismen ihre Synchronisation. Die Summe der daraus resultierenden körperlichen Abnormalitäten ist der Jetlag.(1) Da liegt es auf der Hand, die gestörten biologischen Zeitregelkreise durch geeignete Medikamente so zu manipulieren, dass sie wieder synchron laufen. Und ebenso naheliegend ist es, dafür jene Substanz einzusetzen, die dies normalerweise schon tut, nämlich Melatonin.

In der Tat hat eine Auswertung der rund ein Dutzend bislang durchgeführten Studien durch die renommierte Cochrane Library ergeben, dass die Einnahme von 2 bis 5 mg Melatonin zur Schlafenszeit am Zielort zuverlässig die Jetlag-Beschwerden abschwächt und dem gestressten Reisenden zu einer erholsamen Nachtruhe verhilft.(2) Die Wirkung des Neurohormons ist ausgeprägter bei Reisen in Richtung Osten und wird als umso wohltuender empfunden, je mehr Zeitzonen überquert worden sind.

Was aber macht derjenige Reisende, dem gar nicht an einer raschen Umstellung seiner inneren Uhr gelegen ist - der eilige Politiker beispielsweise, der heute in Washington zu Besuch ist und morgen in Bern wieder seinen Amtsgeschäften nachgehen muss? Dieser Frage ist eine schweizerisch-amerikanische Arbeitsgruppe unter der Leitung von Andrea Suhner von der Reiseklinik der Universität Zürich nachgegangen.(3) Sinnvoll ist hier der Einsatz eines Schlafmittels, folgern die Forscher auf Grund einer sorgfältig durchgeführten Studie an 137 Reisenden, die einen Nachtflug von den USA nach Mitteleuropa absolvierten. Als Mittel der Wahl betrachten die Wissenschafter die Substanz Zolpidem, ein sogenanntes Imidazopyridin. Das Medikament, das nicht mit den sogenannten Benzodiazepinen (wie beispielsweise Valium) verwandt ist, induziert zuverlässig Schlaf, führt aber nicht zur völligen Entspannung der Muskulatur (was im Flugzeug im Hinblick auf das Thromboserisiko von Vorteil ist) und hat zudem eine so kurze Halbwertszeit, dass am nächsten Tag so gut wie keine Nachwirkungen mehr spürbar sind. 10 mg Zolpidem, im Flugzeug und an vier aufeinander folgenden Abenden nach der Ankunft eingenommen, so das Résumé der Jetlag-Forscher, verbessern nicht nur den Schlaf, sondern reduzieren auch andere Folgen des Zeitsprungs. Allerdings berichteten die Reisenden nach der Einnahme des Schlafmittels über deutlich mehr Nebenwirkungen, verglichen mit Melatonin.

Zusätzliche Energie erleichtert Anpassung

Auf einen völlig anderen Weg, den Folgen des Jetlags zu entkommen, hat kürzlich eine Gruppe amerikanischer Neuropsychologen hingewiesen. Ihre Hypothese besagt, dass man, statt die biologische Uhr durch chemische Hilfsmittel in einen neuen Rhythmus zu bringen, lieber dem Körper bei der Umstellung Zeit lassen und ihn dafür mit zusätzlicher Energie versorgen solle, um so die mentalen Folgen des Jetlags zu mildern. Als molekularen Energiespender haben die Forscher NADH (Nicotinamid-Adenindinucleotid) gewählt, ein sogenanntes Koenzym, das in jeder Körperzelle zur Bereitstellung von Energie benötigt wird. Ausserdem erhöht frei verfügbares NADH die Produktion von Dopamin, einem wichtigen Neurotransmitter. Bereits früher haben Untersuchungen gezeigt, dass NADH, in einer Form gegeben, die im Mund resorbiert wird, bei Patienten mit so unterschiedlichen Krankheiten wie dem Chronischen Müdigkeitssyndrom, der Parkinson'schen Krankheit und Depressionen die Beschwerden signifikant lindert.

Die Wissenschafter vom Neuropsychologischen Institut in Washington suchten sich als Probanden gesunde Erwachsene aus, die einen Nachtflug von San Diego nach Baltimore gebucht hatten und dabei vier Zeitzonen überquerten. Mit einer ganzen Batterie von psychologischen Testverfahren wurden Wahrnehmung, Denk- und Konzentrationsvermögen, Wachheit beziehungsweise Müdigkeit und das subjektive Wohlbefinden quantitativ erfasst, und zwar vor dem Abflug wie auch zweimal nach Ende des Fluges.

Gleich nach der Ankunft in Baltimore erhielt die eine Gruppe 20 mg NADH, die andere ein Placebo. Der Effekte der «Energiebombe» NADH war verblüffend: In fünf von acht Testverfahren schnitten die Reisenden nach Einnahme der Substanz signifikant besser ab als diejenigen Personen, die ein Placebo unter der Zunge hatten zergehen lassen. Ausserdem berichteten die Personen mit NADH, dass sie sich weniger müde und deutlich wohler fühlten. Nebenwirkungen wurden bei keiner der 18 Personen beobachtet.(4)

Hermann Feldmeier

Quellen

(1) CNS Drugs 15, 311-328 (2001),

(2) The Cochrane Library 3 (2001),

(3) Aviation, Space, and Environmental Medicine 72, 638-648 (2001),

(4) Aviation, Space, and Environmental Medicine, 2001, im Druck.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 14. November 2001, Nr.265, Seite 79

Jetlag schädigt das Gehirn

slz. Vor kurzem hat eine amerikanische Gruppe die Auswirkungen von wiederholtem Jetlag aufs Gehirn studiert. Untersucht wurden zwei Gruppen von Stewardessen, die beide in den fünf vergangenen Jahren immer wieder Langstreckenflüge absolviert hatten. Dabei konnten sich die Probandinnen der Gruppe A jeweils zwischen den Flügen maximal fünf Tage erholen, während für die Teilnehmerinnen der Gruppe B mindestens zwei Wochen zwischen den einzelnen Jetlags lagen.

Von den Versuchspersonen wurden Magnetresonanzaufnahmen einer bestimmten Region des Grosshirns, des sogenannten Schläfenlappens, gemacht. Bei den Frauen mit kurzer Erholungsphase war diese Region durchwegs kleiner als bei denjenigen, die zwischen den Jetlags länger im geregelten Rhythmus leben konnten. Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass ein kleinerer Schläfenlappen zu Defiziten bei verschiedenen kognitiven Tests führt. Dies wurde daher ebenfalls untersucht. Und tatsächlich schnitten die Probandinnen der Gruppe A deutlich schlechter ab als ihre Kolleginnen der Gruppe B. Die Studie scheint also zu belegen, dass ein während Jahren immer wieder durcheinander geworfener Schlaf-Wach-Rhythmus seine Spuren im Gehirn hinterlässt. Gezeigt wurde auch, dass die Erholungsphase zwischen den Jetlag-Episoden eine wichtige Rolle spielt: je länger die Jetlag-freie Phase, desto weniger scheint das Gehirn durch die Zeitverschiebungen Schaden zu nehmen.

Quelle: Nature Neuroscience 4, 567/568 (2001).

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 14. November 2001, Nr.265, Seite 79

Bereich: AlltagSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin