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17.11.2001Neue Zürcher ZeitungRenate WeberEnergiequelle für den Tag oder nächtliche Qual

Energiequelle für den Tag oder nächtliche Qual

Vom Schlaf und was er an Überraschungen und Rätseln zu bieten hat

Sie schlafen schlecht? Das ist an sich nichts Besonderes - Ihnen geht es ebenso wie etwa jedem dritten Schweizer Durchschnittsbürger. Von jenen, die über Schlafstörungen klagen, haben manche ihre liebe Not mit dem Einschlafen, andere können nicht durchschlafen, wachen in aller Herrgottsfrühe auf, oder sie haben im ungünstigsten Fall eine Kombination dieser Störungen. Doch damit nicht genug - es gibt noch zahllose andere Phänomene rund um den Schlaf - angefangen von Schlafattacken, über das Schlafwandeln und die Schlaflähmung bis hin zu aggressiven Ausbrüchen im Schlaf.

Wenn das alles nicht auf Sie zutrifft, gehören Sie wohl zu den Glücklichen, die einfach gut schlafen und vielleicht auch noch schön träumen. Aber wie kommen Sie damit zurecht, dass Sie ein Drittel Ihrer Lebenszeit verschlafen - kostbare Zeit im Bett verbringen, die man so sinnvoll nutzen könnte?

Schlaf - «aktive» Ruhezeit

Wir assoziieren Schlaf mit Ruhe und Inaktivität. Doch das ist nur bedingt richtig. Der Schlaf ist zwar ein regelmässig wiederkehrender, lebenswichtiger Erholungszustand, der jedoch mit einer enormen Aktivität des Gehirns einhergeht, die messbar ist und wissenschaftlich in verschiedene Stufen eingeteilt wird. Im Schlaf ist die Bewusstseinslage verändert, und die Spontanaktivität ebenso wie die Reaktion auf äussere Reize sind stark herabgesetzt. Und auch bestimmte Körperfunktionen laufen anders ab als im Wachzustand.

Die Wissenschaft unterscheidet REM- und Non-REM-Phasen, die sich während der Nacht mehrmals abwechseln. REM steht für Rapid Eye Movement und bezeichnet Schlafphasen, die sich durch rasche Augenbewegungen auszeichnen. Diese treten intensiver in der zweiten Nachthälfte auf und gehen mit angenehmen, bizarren oder schockierenden Träumen einher. Die Non-REM-Phasen prägen Stadien mit verschiedener Schlaftiefe. Die intensiven Tiefschlafphasen fallen auf die ersten Stunden nach dem Einschlafen, daher wohl die laienhafte Annahme, der Schlaf vor Mitternacht sei «wertvoller».

Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird von Schrittmachern im Zentralnervensystem gesteuert - mit einer natürlichen 25-Stunden-Periodik. Unser Biorhythmus hat sich jedoch dem 24-Stunden-Tag angepasst. Das individuelle Schlafbedürfnis schwankt stark: Manche Menschen kommen als Erwachsene sehr gut mit fünf bis sechs Stunden Schlaf aus, während mit anderen nichts anzufangen ist, wenn sie nicht mindestens acht Stunden geschlafen haben. Kinder brauchen deutlich mehr Schlaf als Erwachsene, und ältere Menschen kommen mit weniger Schlaf aus, würden aber gerne lang und ausgiebig schlafen. Sie wollen am Abend nicht unbedingt lange aufbleiben - und wenn sie es tun, werden viele von ihnen einfach vom Schlaf überrumpelt, bevorzugt vor dem Fernseher. Bis sie sich dann irgendwann ins Bett bemühen, sind sie wieder hellwach und können stundenlang nicht mehr einschlafen.

Schlafmangel und Schlaflosigkeit

Schlafmangel kann zahlreiche Physische und psychische - konsequenter Schlafentzug tödliche Folgen haben. In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden verschiedentlich «Meisterschaften» durchgeführt, deren Teilnehmer Wachbleib-Rekorde aufzustellen versuchten. Der Rekord soll bei 11 Tagen gelegen haben und für den Halter nicht folgenlos geblieben sein: Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Persönlichkeitsschwund, Verwirrt- und Desorientiertheit machten eine mehrmonatige psychologische Behandlung nötig. In diese Zeit fielen auch Forschungen mit dem Ziel, einen Stoff zu finden, der den Schlaf ersetzt. Man hoffte, den Körper austricksen zu können, indem man ein «Serum gegen den Schlaf» verabreicht, welches dem Menschen das verlorene Lebensdrittel zurückgibt - ohne gesundheitliche Schäden zu provozieren. Doch das ist Vergangenheit.

Anders sieht es mit dem therapeutischen Schlafentzug aus. Menschen, die unter einer Depression leiden, können oft eine deutliche Verbesserung der Stimmung erreichen, wenn sie zwischendurch - unter ärztlicher Anleitung - auf den Nachtschlaf oder den Schlaf in der zweiten Nachthälfte verzichten.

Sind Träume Schäume?

In die Zeit des Schlafes fallen aber auch die Träume. Seit Menschengedenken sind wir von diesem Phänomen fasziniert, zahllos sind die Versuche, deren Bedeutung zu erfassen und zu analysieren. Neben «Standardträumen», etwa das tiefe Fallen oder Abstürzen, das einen mit klopfendem Herzen aufwachen lässt, haben viele Menschen immer wiederkehrende Träume mit nahezu identischem Inhalt, denen sie naturgemäss eine grössere Bedeutung beimessen als Zufallsträumen, deren Inhalt man oft schon beim Frühstück nur noch bruchstückhaft wiedergeben kann. - Vor hundert Jahren hat Sigmund Freud mit seiner «Traumdeutung» Furore gemacht, später hat sich sein Schüler C. G. Jung mit den Traumdeutungs-Theorien profiliert. Etwa ab 1970 sah man das Träumen als Entrümpelungsaktion an, bei der zufällig aktiviertes Material zum Traumbild wird. Inzwischen findet ein intensiver Dialog zwischen Psychoanalytikern und Hirnforschern statt, immer noch auf der Suche nach einem schlüssigen Konzept. Das Interesse an den Träumen ist jedenfalls ungebrochen: beim Stichwort «Traumdeutung» bietet allein www.google.com über 12'000 Treffer an.

Vom Schlaf übermannt

In der Schlafmedizin wird es jenseits von Einschlaf- und Durchschlafstörungen erst so richtig spannend, denn neben den klassischen Schlafstörungen spielen die Hypersomnien mit verstärkter Tagesschläfrigkeit und die Parasomnien, bei denen der Schlaf durch unerwünschte, vor allem motorische oder auch psychische abnorme Ereignisse unterbrochen wird, eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Von Hypersomnie spricht man, wenn die Betroffenen nicht nur unter fehlender Energie und mangelndem Antrieb leiden, sondern auch tagsüber in völlig inadäquaten Situationen einschlafen. Dass jemandem vor dem Fernseher oder nach einer üppigen Mahlzeit die Augen zufallen, ist nichts Aussergewöhnliches, wenn das jedoch während eines Telefonates, beim Autofahren oder in Extremfällen sogar im Gehen und Stehen passiert, wird es unangenehm und gefährlich. Als Ursache der ausgeprägten Neigung zu Schlaf tagsüber kommen das Schlaf-Apnoe-Syndrom, die Narkolepsie, das Restless Legs Syndrom und - gar nicht so selten - das chronische Schlafdefizit in Frage.

Beim Schlaf-Apnoe-Syndrom treten während der Nacht kurze Atempausen auf, die den Schlaf immer wieder unterbrechen und die Tagesmüdigkeit verursachen. Patienten mit Restless Legs leiden in Ruhe unter quälenden Missempfindungen vor allem in den Beinen, begleitet von nicht unterdrückbarem Bewegungsdrang. Auch daraus können erhebliche Schlafstörungen resultieren, die sich auf die Tagesbefindlichkeit negativ auswirken.

Als Paradebeispiel für eine neurologisch bedingte Hypersomnie ist die Narkolepsie zu nennen, bei der es am Tag zu unkontrollierbaren Schlafattacken kommt, welche die Betroffenen erheblich gefährden können. Mit schätzungsweise 5000 Patienten in der Schweiz kommt die Narkolepsie etwa so häufig vor wie die multiple Sklerose.

Denn sie wissen nicht, was sie tun

Zu den Parasomnien zählen so harmlose Erscheinungen wie das Zähneknirschen, das Sprechen im Schlaf oder auch das Schlafwandeln, wobei selbst Letzteres meist glimpflich abgeht. Es können aber auch Handlungen vorkommen, von denen die Parasomnie-Patienten am Tage nicht einmal träumen würden - vom Autofahren bis hin zum Kochen oder gar das Ausführen gewalttätiger Aktionen. Solche Störungen treten aus dem Schlaf heraus auf oder ereignen sich an der Schwelle zwischen Wachsein und Schlafen und sind meist motorischer Natur. Beim Schlafwandeln, das in erster Linie bei Kindern und Jugendlichen auftritt, fehlt meist die aggressive Komponente. Mit der sprichwörtlichen «schlafwandlerischen Sicherheit» ist es allerdings nicht so weit her, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass Schlafwandler gar nicht so selten eine Treppe hinunterstürzen, ihr Auto zu Schrott fahren oder sich und andere anderweitig gefährden.

Durch eine ganze Reihe gut dokumentierter Einzelfälle, neuerdings auch unterstützt durch Untersuchungen im Schlaflabor, ist eindeutig belegt, dass fremd- und selbstschädigende Handlungen sowohl aus dem REM- als auch aus dem Non-REM-Schlaf vorkommen können. Charakteristisch ist, dass die Betroffenen sich später an das Vorgefallene nicht erinnern können. Sehr unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch darüber, wie komplex derartige Aktivitäten sein können. Oft erleben die Betroffenen intensive Angst- oder Katastrophenzustände, sie verkennen die Situation und umgebende Personen, fühlen sich angegriffen und agieren dann entsprechend.

Dass Körper und Geist nicht gemeinsam erwachen - diese Situation kennen Menschen, die gelegentlich ein Schlaflähmung erleben. Sie träumen etwas Schreckliches, Beängstigendes, möchten handeln, fliehen, sich wehren, sind aber völlig unfähig, auch nur die geringste Bewegung auszuführen. Über solche Phänomene wird vor allem während des Einschlafens oder beim Aufwachen berichtet. Immerhin scheint man dazwischen ein wenig der angestrebten Nachtruhe geniessen zu können.

Renate Weber

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Lebensart, 17. November 2001, Nr.268, Seite 115

Bereich: Forschung SchlafSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin