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27.01.2002SonntagsZeitungClaudia NientitDem Sandmann auf der Spur

Dem Sandmann auf der Spur

Forscher enträtseln die Schlafkrankheit, unter der einer von 2000 Menschen leidet, und suchen eine Therapie.

VON CLAUDIA NIENTIT

Berlin/Zürich - Eben noch läuft der junge Mann am Rand einer Landstrasse hin und her, plötzlich torkelt er, fällt um, liegt ruhig auf dem Asphalt, während ein Auto um ihn herumfährt. Szenenwechsel. Eine üppige Mahlzeit im Restaurant, der Kopf sinkt nach vorne auf den Tisch, und der Akteur schläft tief und fest.

Was in dem Film «My own private Idaho» zum Schmunzeln anregt, ist im richtigen Leben bitterer Ernst. Die Schlafkrankheit «Narkolepsie», unter der River Phoenix in der Rolle von Mike Waters leidet, betrifft einen von 2000 Menschen. Die Ursachen der Schlafattacken lagen bis vor kurzem noch völlig im Dunkeln. Inzwischen sind Wissenschaftler der Krankheit jedoch auf die Spur gekommen und hoffen, wirksamere Therapien entwickeln zu können.

Ein kleines Eiweissstück - besser gesagt dessen Mangel - brachte den grossen Durchbruch: Zwei Forschungsteams aus den USA und Japan entdeckten 1999 fast gleichzeitig, dass Störungen in Produktion und Funktion eines Nerven- botenstoff namens Orexin Narkolepsie-ähnliche Symptome bei Mäusen und Hunden verursachen kann.

Obwohl die normale Aufgabe von Orexin im Hirn nach wie vor ungeklärt ist, kam seine Entdeckung einer Revolution gleich: «Dass der Ausfall eines einzelnen Eiweisskörpers in einer kleinen Hirnregion eine komplexe Krankheit wie die Narkolepsie auslösen kann, ist eine der aufregendsten Entdeckungen der Neurowissenschaften in den letzten Jahren», sagt Thomas Pollmächer vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.

Nur ein Jahr später fand Emmanuel Mignot, dessen Team vom Zentrum für Narkolepsie an der Stanford University schon bei den Hunden fündig geworden war, dass Orexin auch an der Narkolepsie-Entstehung beim Menschen beteiligt ist. Im Hirnwasser (Liquor) von Betroffenen war die Konzentration des Eiweisses deutlich erniedrigt. Auch die Untersuchung von Gehirnen verstorbener Narkolepsie-Patienten bestätigte anschliessend den Zusammenhang: Sowohl die Anzahl der Zellen, die den Botenstoff produzieren, als auch die Menge des Eiweisses selbst waren deutlich vermindert.

Die Hoffnung Orexin zeigte sich im Tierversuch nur mässig erfolgreich

Was jedoch das Orexin-System zerstört, ist unklar. Eine erste Spur lieferte das Immunsystem-Eiweiss HLA-DR2: In den Achtzigerjahren fanden es Wissenschaftler bei 90 Prozent der Narkolepsie-Kranken und vermuteten daher eine Autoimmunerkrankung als Ursache. Nur: Ein Angriff des körpereigenen Immunsystems auf die Gehirnzellen konnte trotz weltweiter Forschungsaktivitäten bisher nicht nachgewiesen werden.

Hier zu Lande beschäftigt sich Claudio Bassetti von der Neurologischen Klinik am Universitätsspital Zürich mit der Rolle von Orexin. Er konnte nachweisen, dass der Botenstoff im Liquor lediglich bei «typischen» Narkolepsien (die auch mit Lähmungserscheinungen verbunden sind) erniedrigt ist. Bassetti gibt sich deshalb weniger euphorisch als seine US-Kollegen: «Gerade bei den schwerer feststellbaren, untypischen Narkolepsien ist der Orexin-Spiegel kein zuverlässiges Diagnose-Kriterium.»

Trotzdem setzen Wissenschaftler weltweit auf einen Orexin-Ersatz als Therapie. «Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass die Behandlung des Botenstoffmangels mit ähnlich wirkenden Medikamenten die effektivste Behandlung ist», sagt Jerry Siegel von der Abteilung für Psychiatrie an der University of California in Los Angeles. Die bisher verwendeten Medikamente wie Stimulantien und Mittel gegen die Lähmungen konnten die Symptome nur lindern, nicht aber deren Ursache bekämpfen.

In ersten Tierversuchen war Orexin allerdings nur mässig erfolgreich, denn es zeigte sich, dass extrem hohe Dosen des Eiweisses verabreicht werden müssen, damit dieses aus dem Blut ins Gehirn gelangen kann. «Der beste Weg scheint es zu sein, das Orexin direkt in das Hirnwasser zu spritzen», sagt Bassetti, «das war bei Tieren bereits erfolgreich.»

Wie lange es jedoch dauert, bis ein entsprechendes Mittel einsatzfähig wäre, möchten die Mediziner nicht vorhersagen. Max-Planck-Forscher Pollmächer: «Theoretisch sieht es im Moment zwar gut aus, aber wie lange es dauert, eine solche Therapie zu entwickeln, ist nicht vorhersehbar.»

Mitarbeit: David Tuller

Die Schweiz. Narkolepsie-Gesellschaft im Internet: www.narcolepsy.ch.

Bereich: Forschung SchlafSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin