Zur Startseite
Zur Archiv-Übersicht
14.04.2002Neue Zürcher ZeitungRuth KuntzDie Seele zeigt sich in der Nacht

Die Seele zeigt sich in der Nacht

Was läuft im Gehirn ab, wenn wir träumen? Und was in der Seele? Neue Erkenntnisse in der Neuroforschung bestätigen alte Mythen und Freuds Theorien.

Von Ruth Kuntz

Ohne Flügel fliegen, ohne Mühe Gipfel stürmen und den Ozean durchschwimmen, gleichzeitig den Zug verpassen, nicht fliehen können vor grinsend bissigen Fledermäusen - aus dem Reich des Traumes entsteigen die bizarrsten Phantasien. Und doch erscheinen sie dem Menschen von alters her als Schlüssel zur Erkenntnis seiner selbst. Es war Prometheus, der Überbringer des Bewusstseins und Verstands, der den Menschen die Fähigkeit zur Traumdeutung vermittelte und damit das Wissensmonopol der Götter brach.

Noch heute suchen Traumforscher nach neuen Erkenntnissen über den Menschen, zumindest über sein Gehirn. Ein mühsames Unterfangen. Denn Träume spielen sich in der schier endlosen neurophysiologischen Landschaft des Gehirns ab und aktivieren dort viele Areale. Als gesichert gilt bisher, dass Träume körperliche Reizreaktionen sind, teilweise das Gedächtnis festigen, «Speicherinhalte» bereinigen oder der unbewussten Wunscherfüllung dienen. Aber sie sind gleichzeitig mehr. Während des Traumprozesses findet eine «Informationsangleichung» statt, bei der aufwühlend konflikthafte Tagesereignisse mit Gedächtnisinhalten verknüpft werden und eine Art Problemlösung in Gang gesetzt wird. Die Zeit und Ort überbrückenden Traumszenarien zeugen davon. Auch davon, dass das Gehirn im Schlaf aktiv bleibt, ständig mit Informationsbearbeitung beschäftigt ist und die «innere Landkarte» laufend an die Tageserlebnisse angleicht.

Träume selber gestalten

Analogien zur digitalisierten Welt drängen sich auf: Wenn die Zeit zur Verarbeitung schwieriger Erfahrungen fehlt, wird das Unbearbeitete zwischengespeichert, in ruhigen Phasen hervorgeholt und erledigt. Für den Bonner Neurophysiologen Detlef Linke spielen in menschlichen Vorgängen wie dem Träumen aber nicht nur die «Soft-» und die «Hardware» eine Rolle. Erst die kulturellen Mythen, mit denen die inneren Vorgänge gedeutet werden, entscheiden darüber, ob die vorgegebenen Phänomene adäquat verarbeitet und in die individuelle Biographie integriert werden. Genau deshalb können Träume nicht jenseits der Traumdeutungshistorie betrachtet werden.

Das älteste noch erhaltene Traumbuch stammt aus Ägypten, es ist über 3300 Jahre alt. Auch die Bibel liest sich streckenweise wie eine Traumgeschichte. So deutete Joseph die pharaonischen Träume von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen als Prophezeiung Gottes, Ägypten sieben gute und sieben schlechte Jahre zu schicken. Antike Schriften berichten von Träumen, die nicht nur Orakel, sondern therapeutische Anweisungen übermittelten. In Äskulap-Heiligtümern beispielsweise nächtigten Kranke, die darauf warteten, dass ihnen der «Halbgott in Weiss» im Traum das richtige Heilverfahren offenbart.

Doch mancher Gelehrte mochte schon damals nicht glauben, dass die Irrlichter des Schlafes göttliche Erleuchtung bringen. Für Platon waren Träume ein genialer Weg zur Selbsterkenntnis. Aristoteles betrachtete die Schlafaktivität als Introspektion der Seele. Auch Artemidor aus Kleinasien, der grösste Traumforscher und -deuter der griechisch-römischen Antike, interpretierte den Träumer nicht mehr als blosses Medium, sondern auch als Gestalter seiner Träume. So berichtet er von einem Mann, der träumte, er werde zum zweiten Mal von seiner Mutter geboren. Tatsächlich war der Mann bettelarm, bis er seine sterbende Mutter beerbte und damit ein neues Leben gewann.

Wissenschaftseuphorie

Erst mit der aufkeimenden Wissenschaftseuphorie des 19.Jahrhunderts verblasste Artemidors Traumdeutung. Erkenntnisideal wurden die exakten Naturwissenschaften, die den Traum von seiner transzendenten Bedeutung entblössten. Doch Sigmund Freud rettete die jahrtausendealte Deutungstradition, indem er sie in eine neue Wissensdimension integrierte.

Auf der Traumbühne hatten die Götter nun endgültig ausgespielt, und der sich selbst darstellende Mensch blieb alleiniger Akteur. Nach Freud verliert die innere Zensur im Schlaf einen Teil ihrer Macht, libidinöse Regungen drängen an die Oberfläche. Es sind die Triebimpulse unerfüllter Wünsche, die sich - nach Erfüllung strebend - an Erlebnisspuren des Vortages heften und damit die «Tagesreste» energetisch verstärken. Je heftiger der ursprüngliche Wunsch einst gegen Tabus verstiess, desto stärker muss er sich auch im Traum wieder tarnen.

Kein Schlaf ohne Traum

Die psychoanalytische Traumdeutung zerlegt das vielschichtige Traumbündel bis auf den bedeutungstragenden Kern, den «Traumgedanken» - ein Weg, der ins Unbewusste, in die Herberge elementarer infantiler Wünsche führt. Damit begründeten sich Traum und Unbewusstes gegenseitig. Und gleichzeitig wurde die Psychoanalyse durch die Traumdeutung zur hermeneutisch therapierenden Methode, die im Traum verschlüsselt manifestierte Konflikte enthüllt. Freuds Ideengebäude hat zwar an den Schnittstellen zwischen Psyche und Biologie Risse bekommen. Doch seine ingeniöse psychoanalytische Traumdeutungstechnik hat selbst die 1953 einsetzenden Frontalangriffe der neurophysiologischen Schlaf- und Traumforscher überstanden.

Damals entdeckten Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitman den REM-Schlaf (Rapid Eye Movements), was das US National Institute of Mental Health veranlasste, allein für Anschlussforschungen fünf Prozent des Gesamtbudgets auszugeben. Die vielleicht heftigste Attacke gegen die psychoanalytische Traumdeutung führten die amerikanischen Physiologen J. Allan Hobson und Robert McCarly, als sie vor rund 20 Jahren den Traum zur bedeutungsleeren «Müllverwertung» erklärten. Ihr Beweis: Im REM-Schlaf feuern Neuronen aus dem Hirnstamm periodisch Signale an Hirnregionen, die Optisches, Akustisches oder auch Bewegungen bearbeiten, entsprechend kumulierten Traumbildern vom Fliegen, Gehen oder Rennen. Aus dem Feuerwerk des Hirnstamms destilliere nun das Schlafbewusstsein Geschichten, die zwangsläufig bizarr ausfallen müssten.

Im Licht dieser Forschung schien sich die Nachtseite des Bewusstseins aufzulösen und das Traumkino seine Bedeutung zu verlieren. Schon bald aber erlebte auch diese «Neuromythologie» einen herben Rückschlag. Denn Forscher stellten fest, dass die Non-REM-Phase nicht traumlos bleibt, obwohl die Träume weniger absonderlich und stärker wie Wachgedanken ablaufen.

Ausserdem tauchten immer mehr Traumreiche im Gehirn auf, die Idee eines einzigen Traumzentrums musste begraben werden. Der Londoner Neurophysiologe und Psychoanalytiker Mark Solms etwa entdeckte, dass auch Gehirnregionen bei der Traumkreation mitspielen, die das räumliche Wahrnehmen oder Bedürfnisse steuern.

Allmählich zeichnet sich ab, was sich Freud erhoffte: Die Hirnforschung bestätigt manche seiner Thesen. Unter der Beweislast räumt nun auch Allan Hobson den Träumen einen psychologischen Sinn ein. Gleichzeitig erweist sich die neurophysiologische Forschung mitnichten als eindeutig. Sie gerät immer dann auf rutschiges Gelände, wenn sie ihre Daten interpretiert. So beharren einige Schlafforscher darauf, dass Träumen Gedächtnisleistung und Lernen erhöht.

Das Harvard-Team um Robert Stickgold beispielsweise unterzog Probanden einem Ein-Tages-Training, bei dem sie die Richtung von Schrägbalken, die kurz auf dem Bildschirm auftauchten, bestimmen mussten. In der darauf folgenden Nacht wurde ein Teil der Probanden am Träumen gehindert - bei ihnen blieb das Training ergebnislos, auch nachdem die Probanden in der übernächsten Nacht normal schliefen. Manche Forscher bezweifeln die Gültigkeit dieser Ergebnisse, da selbst Antidepressiva, die zu traumfreiem Schlaf führen, keinen Gedächtnisverlust bewirkten.

Überlebenstraining

Mit bildgebenden Verfahren wiesen andere Neurophysiologen nach, dass während der traumintensiven REM-Phasen im Frontalhirn Transmitter aktiviert werden, die als Stimmungsaufheller gelten. Also wird auch die Wunscherfüllung das Traumskript mitschreiben. Doch das flexible Gehirn stellt seinen Entdeckern immer wieder neue Fallen. Auch eine langfristig tragfähige Brücke zwischen psychischem und materiellem Traumgeschehen ist noch nicht gebaut.

In Detlef Linkes Modell, das Freuds Theorie mit der Evolution zu verkuppeln sucht, ist der Traum Testfeld, auf dem Problemlösungen trainiert werden, ohne durch den reaktionshemmenden Ich-Zensor zu laufen. Denn beim Träumen würden sich stammesgeschichtlich alte Überlebensstrategien wie Fluchtreaktionen melden und «trocken» geübt. Die Traumszenarien wiederum tragen nach Linke auch die Handschrift der Psyche und ihrer Bedürfnisse.

Sein Modell greift allerdings noch weiter. Linke entziffert die biologischen Vorgänge als Unterbau psychischer Vorgänge und damit in gewissem Sinne auch als Matrix für das Traum-Drehbuch. Im Gehirn werden streng genommen nur Signale verarbeitet. Und nur ein Teil dieser Signale wird zu Informationen. Das Gehirn wiederum versucht, die frei flottierenden Signale oder «Energie» zu strukturieren und zu deuten, um dieses «Nichtbewusste» in das Konzept des Ich zu integrieren. Neurophysiologische Ereignisse brauchen deshalb eine Deutung.

Zum Beispiel das im vierten Lebensjahr ablaufende Sterben sehr vieler Neuronen im Gehirn. Der dramatische Neuronenverlust in der frühen Kindheit soll die Arbeit der verbleibenden Neuronen optimieren, schränkt also das ungebremste Wachstum zugunsten der Funktionstüchtigkeit ein. Dieser biologische Prozess bildet quasi das Schema für einen psychischen Entwicklungsprozess, in dem der Mensch allmählich die Normen der Gesellschaft übernimmt.

Für die Psyche ist das Neuronensterben essenziell, obwohl es als solches vom Bewusstsein nicht wahrgenommen wird. Wahrscheinlich agiert der neurophysiologische Prozess eher wie das Unbewusste, vermutet Linke. Zu Freuds Zeiten bot der Ödipuskomplex, den Freud über die Selbstdeutung entdeckte, einen trefflichen Mythos für den «objektiven» Prozess im Gehirn. Seitdem suchen Psychoanalytiker in den Träumen ihrer Patienten immer wieder nach den Spuren der klassischen Geschichte.

Doch Väter sind nicht mehr die einschränkende, verbietende Instanz, die analog dem neurophysiologischen Vorgang dem «narzisstischen» Selbst die nötigen Grenzen setzt. Häufig fehlen Väter ganz. Der Neuronenschwund aber geschieht weiter, ohne dass eine Metapher sie sinnvoll erfahrbar macht.

Noch gibt es keine moderne «Erzählung», die den physiologischen Vorgang zu einem kognitiven und sozialen Gewinn umdeutet. Vielleicht wartet eine Neudeutung des überholten Ödipuskonzepts bereits in den Träumen eines genialen Psychoanalytikers, der die Spur aufnehmen und das neue Paradigma entfalten könnte. Denn die Traumdeutung spiegelt nicht nur die Geschichte, sie schreibt sie auch mit.

In der Traumphase schüttet das Gehirn Stimmungsaufheller aus. Also spielen Wünsche eine wichtige Rolle.

NZZ am Sonntag, Ressort Wissen, 14.April 2002, Nr.5, Seite 97

Bereich: Forschung SchlafSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin