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24.11.2002SonntagsZeitungChristian MaurerWer morgens verschläft, muss um 19 Uhr ins Bett

Wer morgens verschläft,muss um 19 Uhr ins Bett

Im «Jugendknast» wird hart durchgegriffen zur Abschreckung

CHRISTIAN MAURER

Oberuzwil SG - Die geschlossene Abteilung des St. Galler Jugendheims Platanenhof sieht aus wie der Hochsicherheitstrakt eines Zuchthauses: Abweisender grauer Beton, kleine Fenster mit bruchsicherem Panzerglas, Sichtblenden vor den Fenstern, ein drei Meter hoher Zaun und Sicherheitsschleusen im ganzen Gebäude. Hier sind schwere Jungs und Mädels eingesperrt, 13- bis 18-Jährige, für die es nirgendwo sonst mehr einen Platz gab, die für sich selber oder die Gesellschaft eine Gefahr darstellen. Heimleiter Christian Crottogini nennt seine Institution einen Dienstleistungsbetrieb für die Justiz- und die Vormundschaftsbehörden.

Es braucht viel, bis man im «Jugendknast» landet. Aber die Kids draussen in der Schule sind gewarnt. Diesen Herbst hat der kantonale Lehrmittelverlag St. Gallen das Heft «Jugendliche werden straffällig» herausgegeben, mit dem den Schülerinnen und Schülern gezeigt wird, was bei massiven Grenzüberschreitungen passiert. Anhand authentischer Fälle wird aufgezeigt, wie das Strafrecht schon bei Kindern und Jugendlichen greift. Bei Jonas zum Beispiel. Am Anfang gings noch um Disziplin und interne Regeln. Er rauchte auf dem Pausenplatz, schwänzte die Schule, erledigte seine Hausaufgaben nicht. Doch dann überschritt er Grenzen, die strafrechtlich erfasst und geahndet werden: Zuerst Kiffen und kleinere Diebstähle, dann auch Bedrohungen und Beraubungen von Gleichaltrigen. Die Jugendanwaltschaft wies ihn in die geschlossene Abteilung des Jugendheims Platanenhof in Oberuzwil ein, den grössten «Jugendknast» der Deutschschweiz.

In der geschlossenen Abteilung geht es zu wie in einem Gefängnis

Der Platanenhof untersteht, anders als die meisten Jugendeinrichtungen der Schweiz, nicht dem kantonalen Erziehungs-, sondern dem Justiz- und Polizeidepartement. Für die Vormundschaftsbehörde oder die Justiz, welche die Jugendlichen einweisen, steht deren Schutz im Vordergrund. Die Mädchen, sagt Heimleiter Crottogini, müssten meistens vor Abhängigkeiten, oft zusammen mit sexueller Ausbeutung, geschützt werden. Bei den Burschen dagegen geht es auch um den Schutz der Gesellschaft. In der geschlossenen Abteilung herrscht ein Regime wie in einem Gefängnis. So zumindest empfänden es die Insassen, die oft noch nie in ihrem Leben Regeln oder Umgangsformen einzuhalten hatten, erklärt Crottogini.

Die Einzel-Schlafräume werden zwar Zimmer und nicht Zelle genannt, die Türen werden aber nachts verriegelt. Es gelten klare und strikt verbindliche Regeln. Jedem Neuankömmling wird sofort klar gemacht, dass Verstösse nicht toleriert, sondern unverzüglich thematisiert und im Extremfall bestraft werden.

Das beginnt bei der Wortwahl. Wer einer Betreuungsperson oder einem Mitinsassen unflätige Bezeichnungen an den Kopf wirft, muss sich unverzüglich einer Gruppensitzung stellen und seine Unflätigkeit begründen. Die Botschaft: Auch verbale Gewalt wird nicht geduldet. «Sonst fliegt das nächste Mal, wenn einem etwas nicht passt, eine Tasse durch die Luft», erklärt Crottogini. Und das kann schnell passieren, denn die Jugendlichen stehen aus ihrer Sicht im Dauerstress: eingeschlossen und unter ständiger Beobachtung. Rückzugsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen. «Schule, Werken im Atelier, Gruppenarbeit, Ämtli allein sein gibt es nur nachts.»

Die Palette der Sanktionen ist breit, manche sind hart, stehen aber immer in direktem Zusammenhang zum Vergehen und dessen Auswirkungen:

- Wer vergisst, seine Kaffeetasse wegzuräumen, wird sofort zur Ordnung gerufen. Ebenso wie jener, der sein Kaugummipapier absichtlich neben den Papierkorb schmeisst.

- Wer ausserhalb der Raucherzonen mit einer Zigarette erwischt wird, dem wird das Zigarettenkontingent zusammengestrichen. «Statt 15 gibts dann halt nur noch 10 Zigaretten am Tag.»

- Wer am Morgen verschläft und nicht pünktlich um 7.30 Uhr beim Frühstück erscheint, wird die nächsten zwei Tage schon um 19 Uhr statt erst um 21 Uhr ins Bett gesteckt.

- Wer den Feueralarm in der Werkstatt unnötigerweise betätigt, muss 10 Franken Busse aus seinem Tagesverdienst von 35 Franken abgeben, kleinere Vergehen werden mit fünf Franken Busse oder sozialen Rückstufungen geahndet.

- Wer abhaut, «auf Kurve geht», sitzt nach der unausweichlichen Rückkehr freiwillig oder in Polizeibegleitung 24 Stunden allein in seinem Zimmer und muss einen detaillierten Bericht über die Gründe der Flucht schreiben.

490 Franken kostet der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung pro Tag

Eine «harte Präsenz mit sofortiger Intervention» nennt Crottogini sein System, das er vor sieben Jahren eingeführt hat lange bevor Nulltoleranz zum Schlagwort für den Umgang mit renitenten Jugendlichen geworden ist. «Straffe Regeln sind nicht bloss repressiv, sondern sie geben den Jugendlichen auch Halt. Nulltoleranz ist nicht nur ein autoritäres Konzept», sagt der Heimleiter. Erwachsene in der Welt draussen, kritisiert er, trauten sich zu oft nicht mehr, Umgangsregeln zu erlassen und deren Einhaltung durchzusetzen. «Erwachsene müssen Kindern und Jugendlichen sagen: Ich will das so.»

16 Plätze sind in den zwei Wohngruppen der geschlossenen Abteilung vorhanden. «Ständig ausgebucht», sagt Heimleiter Crottogini. Zwei Drittel der Insassen sind männlich, ein Drittel weiblich, die Gruppen sind gemischt. 120 bis 150 Jugendliche werden pro Jahr eingeliefert. Höchstens drei Monate bleiben sie, dann werden sie weitergereicht. Die meisten in ein anderes Jugendheim.

Trotz Nulltoleranz-Rufen aus Schulen und Parlamenten stellt Crottogini bisher keine spürbar höhere Nachfrage nach freien Plätzen fest, weder in der geschlossenen Abteilung noch in den offenen Wohngruppen. «Die Kosten für Nulltoleranz sind wahrscheinlich vielen Gemeinden doch zu hoch», vermutet Crottogini. Die «sozialpädagogische Intensivstation» braucht für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung und -Überwachung im Dreischichtbetrieb pro Insasse zwei Betreuungspersonen. 490 Franken pro Tag kostet der Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung, 250 bis 300 Franken sind es in den offenen Wohngruppen.

Bereich: AlltagSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin