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07.05.2003Neue Zürcher ZeitungAnne MarowskyAlkohol als Taktgeber bei Süchtigen?

Alkohol als Taktgeber bei Süchtigen?

Wechselspiel zwischen Sucht und zirkadianen Genen

Deutsche Wissenschafter untersuchen die Beziehung zwischen der Alkoholsucht und einer speziellen Genfamilie, den zirkadianen Genen. Diese steuern die innere Uhr, die bei Alkoholikern aus dem Takt gerät. Gleichzeitig macht eine Veränderung in diesen Genen ihre Träger möglicherweise anfälliger für eine Sucht.

Wer schwer alkoholabhängig ist, greift regelmässig zum Glas - manchmal zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dabei bleibt oft der natürliche Schlaf- Wach-Rhythmus auf der Strecke, viele Suchtkranke klagen über massive Schlafstörungen bis hin zur Schlaflosigkeit. Offensichtlich gibt bei ihnen die Droge Alkohol den Takt an. Aber wie setzt regelmässiger Alkoholkonsum die innere Uhr ausser Kraft? Dieser Frage geht die Forschungsgruppe von Rainer Spanagel vom deutschen Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim nach.

Suchtkranke Ratten als Versuchstiere

Als Probanden dienen den Wissenschaftern Ratten. Ein Jahr lang konnten die Nager in ihrem Käfig zwischen reinem Wasser und solchem mit 5, 10 oder 20 Prozent Alkohol frei wählen. Denn Suchtverlangen, so wussten die Wissenschafter, kann nur entstehen, wenn die jeweilige Droge ohne Zwang, also in freier Wahl, eingenommen wird. Gelegentlich wurden die Alkoholflaschen in den Rattenkäfigen für ein bis zwei Wochen durch Tränken mit reinem Wasser ersetzt. Nach einer solchen Entzugsphase tranken die Tiere eindeutig mehr Alkohol als vor der Pause: Sie hatten ein Gedächtnis für Alkohol entwickelt, das dem eines Alkoholikers entspricht, folgerten die Forscher.

Auch das Trink- und Aktivitätsmuster der Nager veränderte sich. Normalerweise sind Ratten bevorzugt nachts aktiv, doch jedes fünfte Versuchstier scherte sich nicht mehr um den natürlichen Rhythmus, sondern lief jede halbe Stunde zur Flasche, um den Alkoholpegel im Blut konstant zu halten. Ähnlich wie bei stark alkoholabhängigen Personen gewann auch bei den suchtkranken Nagern der Trinkrhythmus die Oberhand über den natürlichen biologischen Rhythmus. Wie beim Menschen ist aber auch bei Ratten die biologische Uhr streng reguliert, und zwar ebenfalls wie beim Menschen auf genetischer Basis: In zyklischen Wellen wird eine spezielle Gruppe von Genen abgelesen, die sogenannten zirkadianen Gene. Nach deren Anleitung werden jene Proteine gebaut, die den Organismus im 24-Stunden- Rhythmus schwingen lassen. Da dieser allerdings beim Menschen nicht exakt 24, sondern ungefähr 24,3 Stunden umfasst, werden die entsprechenden Gene zirkadian genannt - lateinisch für «ungefähr ein Tag».

Alkohol statt Licht als Zeitgeber

Um den inneren Rhythmus präzise zu synchronisieren, benötigt der Organismus noch einen Hinweis aus der Aussenwelt, gegeben von einem sogenannten Zeitgeber. Meist übernimmt Licht diese Funktion. Drängt die Droge dem Körper ihren Rhythmus auf, so kann sie dies nur tun, indem sie in die Regulation der zirkadianen Gene eingreift, lautete daher die Arbeitshypothese der Forscher. Und tatsächlich stiessen sie im Hirn der suchtkranken Ratten auf ein stark verändertes Aktivitätsmuster der zirkadianen Gene - offenbar taktete nicht mehr Licht präzise deren Aktivität, sondern der regelmässig konsumierte Alkohol wirbelte den Rhythmus, in dem die Gene abgelesen wurden, chaotisch durcheinander.

Wie der Droge das auf molekularer Ebene gelingt, ist indes noch nicht klar. Das Zusammenspiel der einzelnen Mitglieder der zirkadianen Genfamilie ist hochkomplex, wie schon die Untersuchung nur eines ihrer Mitglieder, des Period-(Per-)Gens, zeigt. Per-Gene sind die zentralen Komponenten der inneren Uhren bei Säugern. Sie werden im Tagesrhythmus im Gehirn aktiv, und zwar dort, wo man bei allen Säugetieren die Zentraluhr vermutet: im sogenannten suprachiasmatischen Nukleus, der nah bei den Sehnerven liegt. Die zirkadiane Aktivität dieser Genfamilie bleibt auch im Dunkeln über mehrere Tage erhalten. Um den Einfluss des Per-Gens und von dessen Produkt, dem Per-Protein, auf das Suchtverhalten zu ermitteln, mussten die Neurobiologen mit Mäusen statt mit Ratten arbeiten, da sich Gene bis jetzt nur in Mäusen verändern beziehungsweise «ausschalten» lassen.

Mutation macht Mäuse hemmungslos

Mäuse besitzen mindestens zwei Varianten des Per-Gens, genannt «mPer1» und «mPer2». Veränderten die Wissenschafter bestimmte Regionen des mPer1-Gens, schalteten sie damit überraschenderweise den Suchttrieb der Tiere nach Alkohol aus. Das komplette Fehlen des mPer2- Gens führte zu einem genau entgegengesetzten Effekt, indem es suchtrelevante Prozesse verstärkte: Mäuse ohne mPer2-Gen tranken deutlich mehr und ungehemmter von den angebotenen Spirituosen als die unveränderten Tiere aus der Kontrollgruppe. Dieses Resultat erstaunte selbst die Wissenschafter, denn dass zwei eng verwandte Gene das Suchtverhalten «bidirektional modulieren», also in einander direkt entgegengesetzter Richtung beeinflussen, sei bis anhin noch nie beobachtet wurden, sagt Spanagel.

An Mäusen gewonnene Ergebnisse lassen sich zwar nicht immer auf den Menschen übertragen, doch dass das Per-Gen auch beim Menschen im Zusammenhang mit Sucht eine entscheidende Rolle spielt, zeigt eine weitere, noch unveröffentlichte Studie aus dem Mannheimer Zentralinstitut für Gesundheit. Für diese untersuchten die Suchtforscher die Per1- und Per2-Gene von 250 alkoholabhängigen Personen. Dabei stiessen sie auf eine spezifische Variation, die bei den Suchtkranken besonders häufig vorkam. Träger einer solchen Variante seien wahrscheinlich empfänglicher für Alkoholwirkungen und dadurch möglicherweise anfälliger für eine Sucht, interpretiert Rainer Spanagel seine Ergebnisse.

Anne Marowsky

Bereich: Forschung NachtaktivitätSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin