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24.01.2001Tages-AnzeigerHans-Peter von DänikenDie Zeichnungen einer Schlaflosen

Die Zeichnungen einer Schlaflosen

Ein traumhaftes Buch für ruhelose Nächte: "The Insomnia Drawings" von Louise Bourgeois. Notizen zu einer bibliophilen Kostbarkeit.

Von Hans-Peter von Däniken

Wächst aus der Nacht der Tag, oder ist es der Tag, aus dem die Nacht entsteht? Der französische Semiotiker Gérard Genette hat dieses Rätsel einmal so gelöst: "Es ist die Nacht, die uns den Tag gibt, und es ist die Nacht, die uns den Tag nehmen wird." Die lichtlosen Stunden gehören zu den ambivalentesten Phasen des Daseins. Nächtliche Dunkelheit, so erzählen uns Bilder und Bücher, so lehrt uns die Kulturgeschichte, kann symbolisch für Blindheit wie für Erkenntnis stehen. Die Nacht ist nicht einfach das Gegenteil des Tages, sie ist das ergänzende Andere. Wir verbinden denn auch die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang mit Ruhe und Entspannung, Lust und Beschaulichkeit, aber auch mit Angst, Alpträumen und den Abgründen der Melancholie.

Bibliophile Kostbarkeit

Ein eindrückliches nächtliches Dokument liegt nun in Form eines würdevoll roten Buches mit mehr als drei Kilogramm Gewicht vor, dessen blauer Kompagnon ein weiteres Kilo auf die Waage bringt. "The Insomnia Drawings" - die Zeichnungen der Schlaflosigkeit - heisst die zweibändige bibliophile Kostbarkeit der französisch-amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeois. Der schmalere Band enthält erläuternde Texte von Marie-Laure Bernadac und Elisabeth Bronfen, der dickere Band jene 220 Zeichnungen, die Bourgeois in schlaflosen Nächten zwischen November 1994 und Juni 1995 geschaffen hat. Nacht für Nacht hat die 1911 in Paris geborene Künstlerin auf immer gleich grosse Blätter gezeichnet, mit roter und blauer Tinte oder mit Bleistift, und oft vorne oder auf der Rückseite Gedanken notiert. Ein Nachtbuch, das von der Suche einer Ruhelosen nach Entspannung und Schlaf erzählt und gleichzeitig die Themen und Motive ihres langen Künstlerlebens aufrollt.

"The purpose of art", notiert sich die Künstlerin, "est de vaincre la peur, nothing more, nothing less" - der Zweck der Kunst ist es, die Angst zu überwinden, nichts mehr, nichts weniger. Ein ungeheurer Satz, der mitten in das Werk von Louise Bourgeois führt. Therapeutische Wirkung verspricht sie sich also vom Zeichnen, wenn sie in ihrem Bett liegt und keinen Anlegepunkt im Strom ihrer Gedanken findet. Tatsächlich kommen einem viele Blätter wie Selbstgespräche vor, die ständig um Erinnerungen kreisen, Emotionen aus der Vergangenheit wachrufen, oft etwas Beschwörendes annehmen. So sind viele ihrer abstrakten Zeichnungen repetitiv-ornamental: Linien setzen sich in Bewegung, beginnen sich zu drehen, mäandrieren endlos, bis die Blätter gefüllt sind mit Garnknäueln, Blütengeweben, textilen Strukturen. Ein ewiger Kreislauf. Die Künstlerin schreibt dazu: "Die abstrakten Zeichnungen stammen aus dem tiefen Bedürfnis nach Frieden, Ruhe und Schlaf. Sie stehen in Verbindung zu unbewussten Erinnerungen."

Anders die figürlichen Blätter, in denen bekannte realistische Motive aus dem Werk von Bourgeois auftauchen: Häuser, Blumen, Bäume, Hügellandschaften, Wasser, Uhren, Menschenketten. Sie repräsentieren nach Aussagen der Künstlerin die Überwindung negativer Erinnerung. Eine dieser Darstellungen liefert die konkrete Illustration ihres Bedürfnisses: Eine Frau kniet auf dem Boden, neben ihr Spaten und Stechgabel, und gräbt von Hand Wurzeln aus. Auf der Rückseite notierte Bourgeois: "Entweder gräbt man unbewusste Erinnerungen aus, oder sie treiben einen weiterhin um." Die Schlaflose auf der Suche nach der eigenen traumatischen Vergangenheit.

Einzigartige Erfahrung

Allmählich dringt man beim Blättern tiefer in Louise Bourgeois' Schaffensweise ein, beginnt zu begreifen, wie sich ein dichtes Netz aus Erinnerung und Alltäglichem bildet, und plötzlich fühlt man sich als stiller Begleiter eines schlaflosen Menschen, nimmt Anteil an seiner Einsamkeit, seiner Unruhe, registriert Empfindungen mit seiner übersteigerten Sensibilität. Eine einzigartige Erfahrung von Kunstbetrachtung.

Bis Mai sind "The Insomnia Drawings" in der Tate Modern in London ausgestellt, später wird man mindestens Teile daraus auch in Zürich sehen können. Denn ihr Besitzer - auch der Herausgeber der beiden Bände - ist die in Zürich ansässige Daros Collection von Stephan Schmidheiny, die demnächst ihre Sammlungen im Löwenbräu-Areal präsentieren wird (siehe Kasten).

Louise Bourgeois: The Insomnia Drawings. Mit Texten von Marie-Laure Bernadac und Elisabeth Bronfen. Hrsg. von Peter Fischer. Engl. und Franz. Daros und Scalo, Zürich 2000. 2 Bd. 168 Fr.

Bereich: KunstSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin