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06.03.2003WeltwocheJames Hamilton-PatersonDie innere Uhr

Die innere Uhr

James Hamilton-Paterson

Neulich weilte ich als Gast bei Verwandten und stellte fest, dass ich zunehmend ungeduldig wurde, was die Gewohnheiten dieser Familie betraf. Sie standen nämlich später auf als ich und gingen den Tag mit unglaublicher Langsamkeit an, indem sie wie Lazarus in Pantoffeln und Morgenmänteln durchs Haus schlurften, gähnten und unzählige Tassen Tee tranken. «Ich bin tot, bis ich meinen Tee gehabt habe», sagte meine Gastgeberin immer wieder: «Ohne Tee kann ich den Tag nicht anfangen.» Während der Morgen dahinschwand und ein spätes Frühstück zu einem frühen Mittagessen geriet, fragte ich mich voll Bitterkeit, warum sich so viele Leute vom erquickenden nächtlichen Schlaf erholen müssen, als seien sie Patienten nach einer fünfstündigen Operation. Ich kann nicht beurteilen, wie viel davon mit einer Störung ihrer inneren Uhr zu tun hat und wie viel mit mangelndem Willen. Vielleicht kommt mir da Selbstgerechtigkeit in die Quere, denn ich selbst habe keinerlei Schwierigkeit, früh aufzustehen und mich gleich an die Arbeit zu setzen mit einer Tasse Kaffee – Tee, wenn ich mir das nur schon vorstelle! – in Griffnähe. Ausserdem habe ich in meinem Leben noch nie einen Jetlag gehabt und verachte deshalb insgeheim Leute, die darunter zu leiden behaupten. Der Konflikt zwischen Frühaufstehern und Nachteulen ist programmiert: «Ich habe eben einen anderen zirkadianen Rhythmus als du.» – «Dummes Zeug, das ist keine Frage der Biologie, sondern der moralischen Einstellung.»

Dass es einen vom Tageslicht unabhängigen inneren biologischen Rhythmus gebe, diese Idee entwickelte erstmals 1729 ein französischer Astronom, dem auffiel, dass Pflanzen ihre Blüten auch dann öffneten und schlossen, wenn sie ständig im Dunkeln gehalten wurden. Doch erst 1994 wurden bei einer Fruchtfliege zwei «Uhren-Gene» ausgemacht. Seither hat man ähnliche Gene bei Menschen und Mäusen gefunden, ausserdem bei Fischen, Pflanzen und Bakterien. Dass sie in so verschiedenen Spezies vorkommen, deutet nicht nur auf die Abstammung von einem weit zurückliegenden gemeinsamen Vorfahren, sondern auch auf ihre Lebenswichtigkeit hin. Biologen bezeichnen sie als «uralt und essenziell».

Die biologische Uhr des Menschen wird von «Uhrenzellen» angetrieben, die Proteine produzieren, die im Lauf eines Tages spezifische Gene ein- und ausschalten. Solche Zellen regeln im Wesentlichen auch unsere Schlafzyklen, indem sie nachts Melatonin ausschütten, ein Schlaf erzeugendes Hormon, das von der Zirbeldrüse produziert wird. Wie der französische Astronom entdeckte, läuft diese Uhr unabhängig vom Sonnenlicht, wobei Licht dennoch eine wichtige regulierende Wirkung hat. Die Mengen dieser Proteine in unseren Körpern steigen und fallen in einem Zyklus, der ein winziges bisschen länger als 24 Stunden ist. Der menschliche Körper nimmt Lichtstärken durch das lichtempfindliche Pigment Kryptochrom wahr, das in der Netzhaut und in der Haut vorkommt. Deshalb kann unsere innere Uhr durch die Produktion entsprechender Proteine neu gestellt werden, was geschieht, wenn Reisende Zeitzonen durchqueren. Und weil der ganze Körper davon betroffen ist, wird nicht nur der Schlafzyklus durcheinander gebracht. Menschen mit Jetlag-Problemen können besser begreifen, wie sich «Nachteulen» fühlen, wenn sie früh aufstehen müssen. Von Übelkeit und Muskelmüdigkeit abgesehen, kann es gut sein, dass sie auch geistig weniger wach sind.

Versicherungsunternehmen haben schon lange festgestellt, dass Industrieunfälle sich bei Frühaufstehern, die Nachtschicht machen müssen, häufen. Und an Jetlag Leidende sind bei wichtigen Sitzungen in Hongkong bekanntlich nicht in Bestform, wenn sie zu dieser Zeit eigentlich in Frankfurt im Bett lägen.

Doch viele Fragen sind nicht beantwortet. So müsste man einmal herausfinden, ob sich die zirkadianen Rhythmen von Wesen, die in den Tiefen der Ozeane in völliger Dunkelheit leben, von den unseren unterscheiden. Meine Hauptfrage aber lautet: Wenn es so viele angebliche Nachteulen gibt (man schätzt sie zurzeit auf acht Prozent der Bevölkerung), wie muss man sie dann bezeichnen? a) Als «differently abled», wie der politisch korrekte Ausdruck für «behindert» lautet, b) als tragische Opfer des «Verspätete-Schlafphasen-Syndroms», das 1981 erfunden wurde, c) als eine seltsame evolutionäre Anpassung. Oder sind es d) faule, ziel- und disziplinlose Nichtsnutze, die vorschieben, mit dem Rest der Menschheit nicht im Einklang zu sein, als jämmerliche Ausrede für ihre moralisch beklagenswerte Unfähigkeit, zu einer anständigen Zeit aus dem Bett zu steigen?

Ich bin sehr für die Wissenschaft – solange sie nicht absurde Vorwände für ganz gewöhnliche schlechte Gewohnheiten liefert. Welchen evolutionären Vorteil sollten Menschen wie meine Verwandten daraus ziehen, dass sie unfähig sind, bei Tagesanbruch aus ihren Höhlen zu kriechen? Sollen die einfach auf ihren Betten aus Mammutfellen liegen bleiben und jämmerlich nach einem Aufguss nasser Blätter schreien, damit die Säbelzahntiger sie aufgrund ihrer Schreie anpeilen können? Nein, tausendmal nein! Nicht ihre inneren Uhren, ihre Wecker gehören neu gestellt! Auf dass sie aus den Betten gescheucht werden zu sinnvollem Tun – Frühstück zu machen für mich, beispielsweise.

Aus dem Englischen von Thomas Bodmer

Bereich: Forschung NachtaktivitätSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin